Yevgeny Prigozhin beendete sein Aufstand genauso schnell, wie er ihn begonnen hatte. Er befahl seinen Söldnertruppen, die sich in einer großen Fahrzeugkolonne nur 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt Moskau entfernt befanden, umzukehren und “zurück ins Lager” zu fahren, wie er verkündete. Am Sonntagabend schien es, als wäre das beängstigend absurde Zwischenspiel vorbei und Prigozhin hätte nachgegeben, ohne viel mehr als ein paar Kratzer auf dem Asphalt von den Spuren der Panzerketten übrig zu haben.
In Wirklichkeit ist jedoch nichts vorbei. Es fängt gerade erst an. An diesem Wochenende trat Putins politisches System — für alle sichtbar — in eine neue Ära ein. Prigozhins Wagner-Gruppe musste nicht einmal bis an die Stadtgrenzen von Moskau vordringen, um eine Schneise der Zerstörung durch die Autokratie Putins zu schlagen. Der Söldnerführer legte die Schwächen des Kremls und die Ängste des Mannes an der Spitze offen.
Das deutlichste Zeichen für die Zerstörung, die Prigozhin in Putins System angerichtet hat, liefert der bizarre Deal, den der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko angeblich zwischen Prigozhin und Putin ausgehandelt hat. Er beinhaltet Amnestie für alle, die am militärischen Aufstand teilgenommen haben, einschließlich ihres Anführers Yevgeny Prigozhin, der ins Exil nach Belarus geschickt werden soll. Wie ist das überhaupt möglich? Auf dem Weg nach Moskau schossen Prigozhins Truppen sechs Hubschrauber und ein Flugzeug ab und töteten mehr als ein Dutzend russischer Soldaten. Wird in Russland heutzutage nur noch wegen friedlicher Anti-Kriegs-Demonstrationen mit Pappschildern ins Gefängnis geworfen?
Und warum hat Putin überhaupt einem Deal zugestimmt, nachdem er Prigozhin am Samstagmorgen noch des Verrats und der Anwendung terroristischer Methoden beschuldigt hatte? In den Anfangstagen von Putins Führung war es eines seiner Markenzeichen, dass er nicht mit “Terroristen” verhandelte, im Gegensatz zu seinem Vorgänger. Und warum wurde ein ausländischer Staatschef zur Vermittlung eines internen russischen Konflikts herangezogen?
Die Schwäche von Putins Staat wurde auch durch die Leichtigkeit deutlich, mit der Prigozhins Truppen in den 24 Stunden vor dem Abbruch des Aufstands vorankommen konnten. Der russische Fernsehkorrespondent Evgeniy Poddubny verglich die Taktik der Wagner-Gruppe am Wochenende mit dem Angriff der Söldnergruppe auf Tripolis in Libyen: maximale Geschwindigkeit kombiniert mit beweglicher Luftabwehr. Der bloße Vergleich reicht aus, um die Verwundbarkeit von Putins Regime zu demonstrieren: Nach zwei Jahrzehnten putinesker Stabilität ist der Wüstenkrieg in Russland angekommen.
Ein letztes Anzeichen dafür, dass der Kreml seine Kontrolle über das Land möglicherweise verliert, war die freundliche Art und Weise, wie Prigozhins Truppen in Rostow am Don empfangen wurden. Später wurde der Söldnerführer von jubelnden Passanten herzlich verabschiedet, inklusive Pro-Wagner-Gesängen. Man hätte eine ganz andere Reaktion für einen Mann erwartet, der gerade die eigene Armee Russlands in eine Schlacht verwickelt hatte.
Prigozhins Aufstand war nichts anderes als absurd, frivol sogar. Von Anfang an war klar, dass seine Truppen niemals stark genug sein würden, um Institutionen zu bedrohen, die dem Kreml loyal ergeben sind. Im Laufe der Jahre hat Prigozhin einfach zu viele Feinde gemacht, um erfolgreich zu sein. Er hat keine Partei und kein politisches Programm — auch wenn er versucht hat, diese Lücke mit seinen ständigen Berufungen auf Gerechtigkeit zu schließen. Das Wort ist auf dem Wappen der Wagner-
Source: spiegel.de
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