Die Europäische Union verfolgt ambitionierte Ziele, um sich als führender Akteur im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) zu etablieren und ihre digitale Souveränität zu sichern. Diesem Ziel dienen der „AI Continent Action Plan“ und die kürzlich vorgestellte „Apply AI Strategy“, die Europa zu einem globalen KI-Kontinent machen sollen. Die Strategien adressieren dabei nicht nur die technologische Entwicklung, sondern auch ethische Grundsätze, Wettbewerbsfähigkeit und die Überwindung von Innovationshürden im Vergleich zu führenden KI-Nationen wie den USA und China.
Europas Strategie für Künstliche Intelligenz: Von Vision zu Anwendung
Die EU hat ihre strategischen Weichenstellungen für Künstliche Intelligenz in zwei zentralen Dokumenten manifestiert: dem „AI Continent Action Plan“, der im April 2025 veröffentlicht wurde, und der im Oktober 2025 vorgestellten „Apply AI Strategy“. Diese Initiativen unterstreichen das Bestreben, Europa zu einem weltweit führenden KI-Kontinent zu formen. Das übergeordnete Ziel ist der Aufbau eines sicheren, wettbewerbsfähigen und nachhaltigen europäischen KI-Ökosystems, das sowohl der Industrie als auch dem öffentlichen Sektor und der Gesellschaft greifbare Vorteile bringt.
Der „AI Continent Action Plan“ als Rahmen
Der „AI Continent Action Plan“ ist das umfassende Fundament der europäischen KI-Politik und zielt darauf ab, die Entwicklung der KI durch gezielte Investitionen, verbesserten Datenzugang und die Förderung von Talenten voranzutreiben. Er basiert auf fünf Säulen: Infrastruktur, Datenzugang, Algorithmen, Fähigkeiten und Vereinfachung von Regeln. Ein zentraler Aspekt ist der Ausbau der Cloud- und Rechenzentrumskapazitäten in der EU, um die Abhängigkeit von nicht-europäischen Anbietern zu reduzieren.
Die „Apply AI Strategy“: KI in die Breite tragen
Die „Apply AI Strategy“ ist das praxisorientierte Umsetzungsinstrument des „AI Continent Action Plan“. Sie zielt darauf ab, KI von der Konzeptphase in die breite Anwendung in Wirtschaft und öffentlichem Sektor zu bringen. Die Strategie fördert eine „AI first“-Mentalität, bei der Künstliche Intelligenz integraler Bestandteil der wirtschaftlichen Wertschöpfung, der öffentlichen Verwaltung und der Forschung werden soll. Insbesondere soll der Einsatz von KI in strategisch wichtigen Industriezweigen wie dem Maschinenbau, der Mobilität, der Energie- und Bauwirtschaft sowie im Gesundheitswesen gefördert werden. Hierfür sind konkrete Branchenstrategien mit Meilensteinen und Förderinstrumenten für die nächsten drei bis fünf Jahre vorgesehen. Die Kommission plant zudem, rund 1 Milliarde Euro an Fördermitteln für die Anwendung von KI zu mobilisieren.
Infrastruktur als Rückgrat: AI Factories und Gigafactories
Um die ambitionierten Ziele zu erreichen, investiert die EU massiv in ihre digitale Infrastruktur. Ein Schlüsselelement sind dabei die „AI Factories“ und „KI-Gigafactories“.
AI Factories: Supercomputer und Expertise für Innovation
AI Factories sind als dynamische Ökosysteme konzipiert, die um KI-optimierte Supercomputer herum entstehen. Sie bieten Start-ups, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie der Industrie direkten Zugang zu Rechenressourcen, technischer Expertise und maßgeschneiderter Unterstützung für die Entwicklung und den Einsatz fortschrittlicher KI-Lösungen. Im Oktober 2025 wurde die Einrichtung von sechs weiteren AI Factories in der Tschechischen Republik, Litauen, den Niederlanden, Polen, Rumänien und Spanien bekannt gegeben, wodurch die Gesamtzahl auf 19 Standorte in 16 Mitgliedstaaten steigt. Diese Erweiterung wird mit über 500 Millionen Euro an gemeinsamen Investitionen von der EU und den Mitgliedstaaten unterstützt. Zuvor wurden bereits Standorte wie Finnland, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, Spanien, Schweden, Österreich, Bulgarien, Frankreich und Slowenien ausgewählt.
KI-Gigafactories: Hyperscale-KI-Entwicklung
Die „KI-Gigafactories“ stellen die nächste Stufe der KI-Infrastruktur dar und sollen hochmoderne, groß angelegte KI-Rechen- und Datenspeicherzentren sein. Sie sind speziell für die Entwicklung, das Training und den Einsatz von KI-Modellen der nächsten Generation im Hyperscale-Maßstab ausgelegt, beispielsweise für Modelle mit Hunderten von Billionen von Parametern. Diese Einrichtungen werden mit enormer Rechenleistung, energieeffizienten Rechenzentren und KI-gesteuerter Automatisierung neue Maßstäbe für das Training und den Einsatz von KI-Modellen setzen. Es sind Investitionen von bis zu 20 Milliarden Euro für bis zu fünf solcher Gigafactories geplant, die mit rund 100.000 hochmodernen KI-Chips ausgestattet sein sollen, viermal mehr als aktuelle AI Factories.
Digitale Souveränität und globale Wettbewerbsfähigkeit
Ein zentrales Anliegen der EU-KI-Strategie ist die Stärkung der digitalen Souveränität Europas und die Verringerung der technologischen Abhängigkeit von den USA und China.
Der Wettbewerb mit den USA
Die USA sind derzeit der unangefochtene Marktführer im Bereich KI und investieren massiv in die Technologie. Allein im Jahr 2023 lagen die Investitionen des Privatsektors in den USA bei rund 67 Milliarden US-Dollar. Große Technologiekonzerne wie Microsoft, Google-Mutter Alphabet, Amazon, Meta und Apple planen für 2024 Investitionen von über 200 Milliarden US-Dollar in KI-Infrastruktur. Für das Jahr 2025 werden von den vier Big-Tech-Giganten (Amazon, Alphabet, Meta, Microsoft) Investitionen von etwa 300 Milliarden US-Dollar prognostiziert, mit einer Steigerung auf 336 Milliarden US-Dollar im Jahr 2026. Hinzu kommt die „Stargate“-Initiative, bei der mehrere IT-Konzerne in den kommenden vier Jahren 500 Milliarden US-Dollar in die KI-Infrastruktur stecken wollen. Die USA sind auch führend bei der Innovation von KI-Basismodellen; 2023 stammten 109 neu entwickelte Modelle aus den Vereinigten Staaten, verglichen mit 20 aus China und 9 aus Großbritannien. Die Risikobereitschaft von Wagniskapitalgebern und die schnelleren Entscheidungen in den USA tragen maßgeblich zur dortigen Innovationskraft bei.
Chinas Aufstieg zur KI-Supermacht
China hat sich seit den 2010er-Jahren zu einer globalen Schlüsselmacht im Bereich der KI entwickelt und strebt an, bis 2030 weltweit führend in KI-Technologien zu werden. Staatlich geförderte Initiativen, massive Investitionen und strategische Industrieprojekte treiben diese Entwicklung voran. Das Land hat sich zum Ziel gesetzt, den heimischen KI-Sektor bis 2025 auf einen Wert von 51 Milliarden Euro auszubauen. China meldet sechsmal so viele KI-Patente an wie die USA. Im Jahr 2023 stieg China laut dem Artificial Intelligence Index Report der Stanford University zur führenden KI-Forschungsnation auf. Chinesische Unternehmen wie Baidu, Alibaba und Huawei investieren massiv in Sprachmodelle, maschinelles Lernen und Robotik. Eine Studie ergab, dass in China 83 Prozent der Unternehmen generative KI-Technologien nutzen – eine höhere Quote als in den USA (65 Prozent). Chinas Stärke liegt auch in der Verfügbarkeit riesiger Datenmengen durch über eine Milliarde Mobiltelefonnutzer, was die schnelle Verbesserung von KI-Modellen ermöglicht. Gleichzeitig steht China vor Herausforderungen durch internationale Exportbeschränkungen für Chips.
Innovationshürden in der EU
Im Gegensatz zu den massiven Investitionen und dem schnelleren Innovationszyklus in den USA und China sieht sich die EU mit eigenen Innovationshürden konfrontiert. Kritiker bemängeln, dass die EU zwar die Abhängigkeit erkannt habe, die Strategien aber zu komplex und kleinteilig seien und konkrete Maßnahmen zum Aufbau von KI-Kompetenzen sowie zum Abbau von sich überschneidenden Regulierungen fehlten. Die im deutschen KI-Strategiepapier für 2020 bis 2025 vorgesehenen 5 Milliarden Euro wurden nicht einmal vollständig investiert, während die USA weitaus höhere Summen mobilisieren. Es besteht die Sorge, dass eine überregulierte Umgebung Innovationen im Keim ersticken und KI-Forschung sowie Unternehmen aus Europa abwandern könnten. Die EU muss den Spagat schaffen, einerseits innovationsfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen und andererseits die Entwicklung von vertrauenswürdiger KI zu gewährleisten.
KI-Ethik und Vertrauenswürdige KI: Der europäische Weg
Die EU positioniert sich als Vorreiter bei der Entwicklung und Regulierung von vertrauenswürdiger KI. Dies geschieht durch umfassende Ethikrichtlinien und den bahnbrechenden EU AI Act.
Ethikrichtlinien für Vertrauenswürdige KI
Die Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz wurden bereits im April 2019 von der hochrangigen Expertengruppe der Europäischen Kommission für KI vorgelegt. Diese Leitlinien betonen einen menschenzentrierten Ansatz für die KI-Entwicklung. Eine vertrauenswürdige KI sollte demnach rechtmäßig, ethisch und robust sein. Sie definieren sieben Kernanforderungen:
- Menschliche Autonomie und Kontrolle: KI-Systeme sollen die Entscheidungsfreiheit des Menschen respektieren und sicherstellen, dass Menschen stets die Kontrolle behalten.
- Technische Robustheit und Sicherheit: KI-Systeme müssen sicher, belastbar und zuverlässig sein, um Risiken wie Sicherheitslücken oder Systemausfälle zu minimieren.
- Privatsphäre und Datenschutz: Der Schutz personenbezogener Daten und die Wahrung der Privatsphäre sind grundlegend.
- Transparenz: Entscheidungen von KI-Systemen müssen nachvollziehbar und erklärbar sein, und Nutzer müssen über die Interaktion mit einem KI-System informiert werden.
- Vielfalt, Nichtdiskriminierung und Fairness: Unfaire Verzerrungen und Diskriminierung müssen vermieden werden, und KI-Systeme sollten für alle zugänglich sein.
- Gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen: KI soll dem Wohl der Gesellschaft und Umwelt dienen und nachhaltig sein.
- Rechenschaftspflicht: Verantwortlichkeiten für KI-Systeme und deren Ergebnisse müssen klar definiert sein, und Überprüfbarkeit ist essenziell.
Der EU AI Act: Ein globaler Standard
Der EU AI Act, der am 1. August 2024 in Kraft getreten ist und ab August 2027 vollständig angewendet wird, ist ein Meilenstein in der Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Er schafft erstmals einheitliche, horizontale Anforderungen an KI-Anwendungen in der EU und dient als Blaupause für vertrauenswürdige KI weltweit. Das Gesetz verfolgt einen risikobasierten Ansatz, der KI-Anwendungen in Kategorien wie minimales, hohes oder unannehmbares Risiko einteilt. Systeme mit unannehmbarem Risiko, die Grundrechte verletzen (z.B. manipulative Techniken), werden verboten. Hochrisiko-KI-Systeme, etwa in kritischen Infrastrukturen oder bei biometrischer Identifizierung, unterliegen strengeren Anforderungen, einschließlich fortlaufender Risikoanalysen und menschlicher Aufsicht. Das Gesetz soll die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken, indem vertrauenswürdige KI zu einem Alleinstellungsmerkmal wird.
Fazit
Die Europäische Union hat mit dem „AI Continent Action Plan“ und der „Apply AI Strategy“ einen klaren Fahrplan entwickelt, um ihre Position im globalen KI-Wettlauf zu stärken und digitale Souveränität zu erreichen. Durch massive Investitionen in Infrastruktur wie die „AI Factories“ und die geplanten „KI-Gigafactories“ soll Europas Rechenleistung und Innovationsfähigkeit maßgeblich ausgebaut werden. Gleichzeitig setzt die EU auf einen einzigartigen, menschenzentrierten Ansatz durch umfassende Ethikrichtlinien und den wegweisenden EU AI Act, um vertrauenswürdige KI zu fördern. Während die EU im Vergleich zu den enormen Investitionen und der schnellen Innovationsrate der USA und Chinas noch Aufholbedarf hat und sich Innovationshürden stellen muss, bietet der europäische Fokus auf ethische und sichere KI das Potenzial, einen globalen Standard zu setzen und eine nachhaltige, wettbewerbsfähige KI-Wirtschaft zu etablieren. Der Erfolg dieser Strategien hängt maßgeblich von einer konsequenten Umsetzung, der Mobilisierung privater Investitionen und einer innovationsfreundlichen Regulierung ab, die Europa als attraktiven Standort für KI-Entwicklung und ‑Anwendung positioniert.
